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Die Knochenflöte

Eine Kurzgeschichte
von Jules B. Asches

Die Vögel zwitscherten, der Wind rauschte in den Blättern der nahen Eschen, der Ochse bekam die Rute und die Schar des Pflugs schnitt knirschend durch den staubtrockenen Acker. Ava hockte auf dem Boden, lauschte mit geschlossenen Augen. Wie viele Male zuvor dachte sie sich hinaus aus ihrer stickigen, überhitzten Kammer. Mit jeder Woche fiel es ihr schwerer sich das Gefühl des Grases unter ihren Sohlen, das Streicheln der lauen Böen über ihre Haut ins Gedächtnis zu rufen; und anstelle der verlorenen Erinnerungen trat Verzweiflung. Eine Verzweiflung so niederdrückend, dass Ava an manchen Tagen die Kraft fehlte, um überhaupt von ihrem Lager aufzustehen.

Auch heute ging sie vollkommen darin auf. Erst als die Hüttentür zuschlug, bemerkte sie, dass das entfernte Scharren des Pfluges ausgeblieben war.

„Avilya!“ Die Dielen knarzten unter den schweren Stiefeln ihres Vaters.

Ohne Absicht hielt sie den Atem an – er klang wütend. Sie strich sich schweißverklebte Strähnen ihres schwarzen Haars aus dem Gesicht und kroch zum verriegelten Einlaß des Hinterzimmers. Auf der anderen Seite, in der Stube, schob Vadr stets den Schrank vor, für gewöhnlich konnte Ava ihn nur verstehen, wenn sie nah heran­rückte. Seine nächsten Anweisungen brachte er allerdings mit Nachdruck vor, sie drangen mit Leichtigkeit zu ihr durch: „Kein Wort, kein Geräusch fortan, sonst gnaden uns die Geister!“

„Vadr, was-?“, hob Ava an, aber seine polternden Schritte entfernten sich schon wieder. Sie hörte die alten Scharniere der Betttruhe ächzen und sog den Atem ein. Was hatte er an dem Kasten zu schaffen, darin fand sich doch nichts, außer Leinen und ausgedientes Werkzeug…?

Abermals ging die Tür.

Es folgte Stille, dann plötzlich: Hufgetrappel, das Knirschen von Wagenrädern auf dem Weg. Natürlich, Gesellschaft! Wann sonst schlug ihr Vater ihr gegenüber einen derart barschen Ton an? Schon drangen unverständliche Stimmen durch das fest verrammelte, kleine Fenster: Vadrs Flüche, zerstückelt von den Einwürfen eines aufgeregten Baritons.

Unmöglich! Avas Mund war von einem Moment zum anderen staubtrocken, ihre Knie wurden weich. Dennoch rappelte sie sich auf, schlich näher zur Außenwand, presste eine Wange ans raue Holz und spähte durch die Lücke zwischen zwei Brettern nach draußen. Das grelle Sonnenlicht blendete sie, ihre Augen tränten. Es dauerte quälend lang, bis sie etwas ausmachen konnte: eine wild gestikulierende Hand – jede ruckartige Bewegung begleitet von einem hellen Klimpern –, ein edles Wams, ein kastanienbrauner Zopf.

Ava keuchte. Ihre Sinne hatten ihr keinen Streich gespielt: Pyotr! Sie hätte schwören können, dass ihr Herz einen Purzelbaum schlug, ehe es aussetzte. Bei den Prinzipien, warum war er zurückgekommen!

Die Sonne stand bereits tief, dennoch hatte Ava es sich noch einmal auf der Bank vor der Hütte bequem gemacht, um den milden Frühlingstag zu genießen. Einen Korb wollte sie vor dem nächsten Markttag noch fertig flechten. Freilich würde sie ihn nicht selbst anbieten können, denn Vadr nahm den Weg nach Regsbrug stets allein auf sich, trotzdem fand sie an ihrem Handwerk Freude. Viel andere Zerstreuung bot der abge­schiedene Flecken Erde, den sie ihr Zuhause nannte, ohnehin nicht; und je älter sie wurde, je mehr Fragen sie stellte und je mehr sie von der Welt sehen wollte, desto seltener ließ ihr Vater zu, dass sie ihn aufs Feld oder zur Jagd begleitete.

Zu dieser Stunde warfen die Bäume des nahen Wäldchens lange Schatten auf den einzigen Weg, der zu ihrer Hütte führte. Aus eben jenem Halbdunkel tauchte just Vadrs bekannte Gestalt auf. Selbst auf die Entfernung sah sie die drei oder vier Kaninchen, die er an den Löffeln hielt. Wie schön! Er hatte Jagdglück gehabt. Lächelnd hob Ava die Hand, doch anstatt ihren Gruß zu erwidern, verfiel er in wildes Gestikulieren und immer schnelleren Lauf.

In ihrer Magengrube tat sich ein bekanntes, tiefes Loch auf; alle Leichtigkeit stürzte unverzüglich hinein. „O nein!“ Seufzend legte sie ihr Flechtwerk beiseite und erhob sich. Sie wusste, was folgen würde. Ein letztes Mal zog sie die nach Heublumen duftende Abendluft tief in ihre Lungen, dann trat sie mit sinkendem Herzen zurück in die finstere Stube. In letzter Zeit verirrten sich mehr und mehr Leute an diesen von den Prinzipien verlassenen Flecken – war sie vom Pech verfolgt!?

„Es kommt ein Karren, Avilya“, bestätigte ihr Vater die Befürcht­ung, kaum dass er über die Schwelle trat. Mit wenigen forschen Schritten war er bei ihr, legte die Hände auf ihre Schultern.

Ihr war wohl bewusst, was er jetzt von ihr verlangen würde und wie jedes Mal wurde ihr flau im Magen. Schon ihre ersten Erinnerungen – sie musste etwa drei Jahre alt gewesen sein – kreisten um die Panik auf seinem Gesicht. Er hatte sie vom Fleck weggehoben, um mit ihr ins Haus zu stürmen, und sie, wie auch heute, in den kleinen abgetrennten Bereich im hinteren Teil der Stube gedrängt. Kein Mucks! Du musst ganz leise sein! Damals hatte er ihr die Tränen mit dem Ärmel seiner Tunika von den Wangen gewischt, das Reisig aus seiner Kiepe geschüttet und Ava unter dem Korb verborgen. Alles wird gut, solange dich keiner entdeckt!

Auch heuer, sechzehn Jahre später, blitzte ihr aus den Augen ihres geliebten Vaters in diesen Momenten nackte Entschlossenheit entgegen. Er wollte sie um jeden Preis schützen. Aber anders als damals, zweifelte Ava mittlerweile daran, dass seine Ängste gerecht­fertigt waren: Sie hatte sich doch im Griff. Niemand hatte nach ihr gesucht. Niemand hatte sich je mit Gewalt Einlass in die Hütte verschafft, um ihr Leid anzutun und sie fortzubringen, wie er es ihr, in bildhaften Worten, vorhergesagt hatte. Tatsächlich hatte sich in all der Zeit kein Besucher nur das Geringste zu Schulden kommen lassen.

Nein, heute grauste es Ava nur noch vor Vadrs Furcht selbst, die abgründig genug schien, um sie beide zu verschlingen, und vor dem Schlupfloch, in das er sie stieß. Jedes Mal betete sie zu den Prinzipien, er möge eine Einsicht haben und damit aufhören, sie hineinzuzwingen; wieder vergebens …

Die Dunkelheit, die Enge, die stickige Luft. Aller Vernunft zum Trotz, war nichts davon mit den Jahren erträglicher geworden. Ava atmete gegen die aufsteigende Panik an, konzentrierte sich auf jedes Geräusch, das sie von draußen einfangen konnte. Ihr Vater hatte eine Art, mit Fremden umzugehen, die diese das Zusammentreffen geradewegs bereuen und kurzhalten ließen.

Dieser Gast jedoch blieb gut gelaunt und redselig. Er musste Vadr nahe der Tür abgefangen haben und er sprach so laut, dass Ava problemlos Gesprächsfetzen verstehen konnte. Ein Mann, dem Anschein nach ein verirrter Händler auf dem Weg zur nächsten Siedlung. Immer wieder begleitete ein leises helles Klingen seine Worte und fachte Avas Neugier an. Was verursachte solch ein Geräusch?

Der Fremde schien angenehm zu sein, seine Stimme war warm und jedes Wort klang, als spräche er es mit einem Lächeln auf den Lippen aus: „… wenn Ihr mir vielleicht den Weg weisen könntet, ich würde Euch einen ordentlichen Nachlass geben … so weit draußen … sicher fehlt Euch das ein oder andere, das ich auf meinem Karren habe?“

„Ich brauche nichts“, bellte Vadr bloß und Ava schüttelte zermürbt den Kopf. Wann immer er sich derart aufführte, verblasste das Bild des sanftmütigen Helden, das sie von ihm pflegte, mehr und mehr.

„Sicher? Wie wäre es mit einem Tauschhandel? Das dort ist ein feines Handwerksstück“, bemerkte der Fremde, hob, dem hölzernen Klackern nach, Avas halbfertigen Korb auf.

Sie konnte sich bildhaft vorstellen, wie er das Flechtwerk hin und her drehte und aufs Genaueste besah; plötzlicher Stolz schwellte ihre Brust.

„Eurer Pranken wegen hätte ich Euch eher für einen Mann fürs
Grobe gehalten …“, scherzte der Handelsmann.

Ava schlug eine Hand vor den Mund, um ihr Prusten zu ersticken.

Ehe Vadr auf diese Unverfrorenheit hätte lospoltern können, fügte der Fremde auch schon an: „Habt ihr noch mehr davon? Ich könnte sie Euch abkaufen, Euch eine Reise zu den nächsten Dörfern ersparen … auf meiner eigenen bestimmt einen besseren Preis herausschlagen als Ihr bei Eurem Besuch in …“

„…Regsbrug“, ergänzte Vater mit einem Knurren in der Stimme, doch mit ungewöhnlichem Wohlwollen. „Drinnen liegen noch fünf. Wie viel, wenn ich sie Euch allesamt überlasse?“

Ava wusste, dass es ihm nicht genehm war selbst mit dem Ochsen­karren in die Stadt fahren und sie dafür allein lassen zu müssen, dennoch war sie überrascht, dass er sich auf das Angebot einließ.

„Nun …“ Anstelle weiterer Worte ein Rascheln, dann klimperten Münzen. Viele Münzen. „Das. Und das hier obendrauf, wenn Ihr mir heute eine Schlafstatt bieten könnt, werter Herr.“

Dem Klang nach wog Vadr die Geldstücke in der Hand. „Zeigt mir, was ihr noch zum Verkauf anbietet und solange es nicht der ärgste Plunder ist, überlasse ich Euch heute Nacht meinen Schuppen.“

Ava schnaubte. Sie war sich sicher, dass ein Handelsmann der das Geldsäckchen so willig zückte, sich nicht mit dem windschiefen Lager abfinden würde, das kaum ihr Brennholz trocken hielt. Doch wenig später machte ein Esel seinem Unmut Luft, ein Karren rollte hinter die Hütte und das kehlige Lachen des Mannes und das Rascheln der Plane beim Abdecken seiner Waren belehrte sie eines Besseren. Er blieb? Avas Herz machte einen aufge­regten Satz. Wie er wohl aussehen mochte, wie es wäre selbst mit ihm zu sprechen? Sicher hätte er unvorstellbar viele Geschichten zu erzählen …

„Avilya? Liebling?“ Vadrs Flüstern riss sie jäh aus ihren Vorstel­lungen; sie hockte noch immer nah des Durchgangs zur Stube und sah verdattert zu ihm auf, sobald er den Vorhang darin beiseite hob.

„Ja?“ Kaum lauter als ein Atemzug.

„Du hast wieder gelauscht.“ Ein Zischen, doch er lächelte milde. „Ich verstehe dich ja, Kind, aber wir dürfen uns keine Unvorsichtig­keit erlauben. Der Händler draußen, der zahlt fürstlich, daher bleibt er da“, erklärte er entschuldigend und strich sich durchs angegraute Haar und den Bart, „und du bleibst über Nacht hier drinnen. Keinen Ton, ja?“

Durch die Ritzen des Fensterladens fiel bereits weniger und weniger Licht. Ava grauste bei dem Gedanken die Nacht in dem kleinen Hinter­zimmer zu fristen, dennoch nickte sie ergeben. So oft hatte sie versucht, sich aufzulehnen und ihnen beiden damit doch nur das Herz gebrochen – Vadrs, seines schlechten Gewissens wegen, und ihr eigenes, an seiner Kompromisslosigkeit.

„Avilya“, ächzte er und verzog dabei leidend den Mund, „bloß weil ich dich liebe …“

„Ich weiß“, antwortete sie im Flüsterton, brachte sogar ein wackeliges Lächeln zustande.

Vadr zog den Vorhang zu. An diesem Abend schob er zum ersten Mal den schweren, selbstgezimmerten Schrank vor den Eingang zu ihrem Versteck. Mit jedem Schleifen der Füße über die Dielen wurde Avas Brust enger und enger. Wie die Tür eines Verlieses, wie der Deckel eines Sarges, dachte sie bei sich.

Der Tag wich endgültig der jungen Nacht. Einer Nacht, die Ava ohne das tröstliche Licht einer Lampe ertragen musste; gleichwohl konnte sie auf ihrer notdürftigen Lagerstatt aus Sackleinen und Fellen keinen Schlaf finden. Bittere Gedanken leisteten ihr bei der Nachtwache Gesellschaft: Nach dem frühen Tod ihrer Mutter hatte es einzig und allein ihren Vater und die Einsamkeit des Waldes für sie gegeben. Das Leben hier draußen mochte einfach und entbehrungsreich sein, doch sie hatte sich stets geliebt gefühlt. Vadr war ihr Spielkamerad, Lehrer und Beschützer gewesen; und es hatte immer genügt. Doch jetzt … Wann war sie alledem bloß entwachsen?

Eine Melodie webte durch die Schwärze im Verschlag. Helle, klare Klänge, die selbst das Klopfen des Regens aufs Dach nicht übertönen konnte. Regen? Wann hatte es angefangen zu regnen?

Ava richtete sich rasch auf, rutschte auf den Knien näher an die Hütten­wand heran. Durch das Fenster drangen schwach der Schein einer Flamme und die Musik … Beides musste von dem unverhofften Gast kommen. Ava kannte die alten Lieder, die Vadr ihr früher vorgesungen hatte, doch sie hatte noch nie etwas vergleichbar Schönes wie diese Melodie des Händlers, gehört. Ob sie einen kurzen Blick hinaus riskieren konnte?

Sie hielt die Luft an, hob den Kopf und linste durch den breiten Spalt zwischen den Läden. Im Licht zweier Öl­lampen machte sie unter dem schrägen Dach des Schuppens zunächst die zuckenden Ohren eines friedlich daliegenden Mulis aus, dann daneben eine Gestalt: Der Händler hockte auf einem Holz­stapel, seine Robe hing schier in eine der schlammigen Pfützen zu seinen Füßen. In den Zierärmeln seines prächtigen Wamses blitzten die Gold­fäden, an seinen Handgelenken klimperten Armreife, während er sich hin und her wiegte und auf einer bleichen Flöte blies. Der Klang des Instruments war nobel – kein bisschen mit dem der Schilfpfeifchen zu vergleichen, die Ava sich als Kind geschnitzt hatte –, er passte zu dem Handelsmann, dem das lange, braune Haar über die Schultern floss wie ein Seidentuch. Fast hätte sie ihn für einen Baumgeist gehalten, wie er da so saß, während das Lampenlicht mit den Regen­tropfen tanzte.

Ava verlor sich einen Moment zu lang in dem märchenhaften Anblick, dem feingeschnittenen Gesicht mit den dichten, dunklen Brauen.

Das Flöten­spiel verstummte.

„He?!“ Besagte Brauen kräuselten sich, die fragenden Augen darunter fanden ihre. „He, du!“

O nein! Sofort ließ Ava den Fensterrahmen los und sich auf die Knie fallen. Nein! Nein! Nein! An Ort und Stelle presste sie sich mit dem Rücken an die Wand, zog die Beine an, machte sich klein. Lauschte. In ihrer Brust flatterte … Aufgeregtheit. Ja, das musste es sein! Mehr und mehr helle Punkte sirrten am Rand ihres Sichtfeldes, bis sie sich ​endlich daran erinnerte, dass sie atmen musste. Der Händler hatte sie gesehen. Was sollte sie nur tun? Was tun?! Was wenn er Vadr am nächsten Tag darauf ansprach? Was würde danach geschehen? Was!?

Das Platschen unentschlossener Schritte in den Pfützen.

„Pst?“, machte der Handelsmann; dann war erneut lediglich das Trommeln des Regens zu hören.

Verdammt! Sich tot zu stellen, würde nichts mehr nützen, das wusste Ava natürlich und doch blieben ihre Glieder lahm vor Angst und in ihrem Kopf dröhnten die immer gleichen Sätze: Du bist anders. Sie fürchten dich und was sie fürchten, dem begegnen sie mit Gewalt. Aber wie wollte solche Rohheit zu den zarten Fingern am Mittelstück der Flöte passen? Einer Flöte, die zu ihrer Verwunderung soeben wieder ertönte; und deren silberne Klänge gradewegs durch den Regen schlichen, durch den Fensterschlitz, durch die Gitterstäbe des Käfigs aus Kleinmut, den Vadr jahrelang um Ava gebaut hatte.

Sie holte tief Luft, stemmte sich hoch, schob den Laden zwei Fingerbreit weiter auf und sich nah an den Spalt heran. Einschüchternd blitzte ihr der Schein der Lampen aus den Augen des Fremden entgegen, doch die Melodie hielt sie fest… So schön, so traurig.

Ein Zwinkern und nach dem letzten Takt ein zaghaftes Winken, das Ava nach einigem Zögern erwiderte. Ein riesenhafter Kloß schien in ihrem Hals zu klemmen, aber als der Händler ein weiteres Mal ans Fenster herantrat, wich sie ihm nicht mehr aus.

„Zum Gruß“, sagte er flüsterleise, bestimmt um sie nicht erneut zu erschrecken. Er legte den Kopf schief, versuchte, an ihr vorüber in den Raum zu spähen, wenngleich ihn die Schwärze darin sicherlich kaum etwas erkennen ließ. Seine Mundwinkel bogen sich zu einem verhaltenen Schmunzeln. „Hat dir mein Spiel gefallen?“

Ava nickte stumm.

„Kannst du nicht reden?“

Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Die Geister wussten, dass sie sprechen wollte, aber es trennten sie einzig ein Vorhangtuch und der Schrank vom Rest der Stube, in der Vater schlief. Ohne es zu wollen, warf sie einen furchtvollen Blick in Richtung des Hauptraumes; mehr brauchte es nicht …

„Dein Herr Vater behütet dich, hm?“, fragte der Händler mit unterdrückter Stimme.

„Mhm“, machte sie sacht.

„Recht hat er, den meisten Tändlern ist wahrlich nicht zu trauen.“ Er schnaufte amüsiert, dann deutete er hinter sich auf seinen Wagen. „Also sind die tadellosen Körbe, die ich gerade geladen habe, von dir?“

Beim nächsten Nicken huschte von selbst ein Lächeln über Avas Lippen, das er mit einer Leichtigkeit erwiderte, die sie mit Neid erfüllte.

„Wusste ich es doch! Alles wird besser, wenn man mit dem Herzen bei der Sache ist, nicht? Und dein Vater sieht mir wahrlich nicht wie ein leidenschaftlicher Flechtmeister aus.“

Bei Avas kaum vernehmlichem Glucksen hellte sich seine Miene noch mehr auf. „Mich nennen sie Pyotr und du bist …?“, ließ er seinen Satz ver­sanden, zweifelsohne um sie zu locken.
„Avilya“, hauchte sie und fügte mit glühenden Wangen an: „Oder lieber: Ava.“

„Ava also.“ Kam es ihr nur so vor, weil sie den Spitznamen, den Mouder ihr gegeben hatte, noch nie aus fremdem Mund gehört hatte, oder verwandelte seine Zunge wirklich jeden Laut in etwas Liebliches. „Es ist mir eine Ehre, Ava. Wie wäre es mit einem weiteren Lied?“

Beim besten Willen hätte Ava nicht erahnen können, wie viele Lieder diesem einen folgen würden, geschweige denn wie viele gewisperte Gespräche im Schein der Öllampen, bei wie vielen Besuchen. Doch an ihr erstes Zusammentreffen mit Pyotr dachte sie noch Monate später gerne zurück.

Als Pyotr am Morgen nach der verregneten Nacht mit ihren Körben von dannen gezogen war, hatte sie gefürchtet, ihn nie wiederzusehen. Sie hatte die Enttäuschung darüber hinunter­geschluckt, wie immer die Grütze gekocht und den Tisch für Vadr und sich gedeckt. Nichtsdestoweniger hatte sie sich
in den Folgetagen bei den alltäglichsten Arbeiten dabei erwischt die Flöten­weisen des Händlers zu summen; und dann…

Drei Wochen später hatten einmal mehr die Räder eines Karrens über den Weg gerieben. Sie entsann sich noch genau der Wärme in ihrer Brust, kaum dass tatsächlich Pyotrs klare Stimme zu Vadrs Gruß übers Feld geschallt hatte. Die Körbe hatten sich tadellos verkauft und die beiden Männer waren schnell zu einer Übereinkunft gekommen: Fortan schaute der Händler alle paar Wochen vorbei, um den Gewinn und Tauschwaren zu bringen und neues Flechtzeug abzuholen. Die Nächte blieb er im Lager, doch anstatt zu schlafen, schlug er sie sich mit Ava um die Ohren: Mit geflüsterten Worten und viel mehr Lächeln, als sie in den vergangenen Jahren in sich gefunden hatte.

Pyotr war ihr in kurzer Zeit ein wahrer Freund geworden, seine Geschichten ihr Tor zu einer Welt, die ihr sonst verborgen blieb; und egal wie klein dieses war, hindurch drangen Licht und Schatten, Lachen und Trauer … Schönheit. Oft erschien es Ava zu gut, um zu währen. Pyotr hatte viel mehr zu geben als sie selbst; irgendwann musste ihn ihre Gesellschaft zwangsläufig langweilen. Diese schlimme Ahnung konnte heute auch das schönste Flötenspiel nicht vertreiben.

„Worüber denkst du denn so angestrengt nach, kleine Ava?“, fragte ihr heimlicher Vertrauter schließlich, trat zu dem Fensterchen hin, legte eine Hand auf den Rahmen.

„Nichts. Und alles, schätze ich.“ Sie wich ein Stück zurück, wollte sich am liebsten vom Schatten ihres Verstecks verschlucken lassen. Unter Pyotrs wachem Blick kam sie sich unzulänglich vor: Er war immer voll Leichtigkeit und offen, auf ihren eigenen Zügen jedoch vermutete sie Harm und Neid – Hässlichkeiten, für die sie sich schämte. Pyotr machte große Augen, sorgenvolle Augen, so fühlte sie sich genötigt fortzufahren: „Ich weiß nicht … Alles an dir leuchtet und glänzt. Du machst wunderbare Musik, kennst die ganze Welt –“
„Sicher nicht die ganze, Ava“, warf er mit amüsiertem Ausdruck ein, aber sie ließ sich nicht beirren: „Und ich? Weiß nichts, kann nichts, bin nichts.“

„Zunächst einmal, könntest du mir selbst aus schimmelndem Stroh einen Korb flechten, mit dem ich Wackersteine tragen könnte. Dann weißt du schlicht all das, was du nur wissen kannst. Du bist herzensgut und ehrlich. Und, was bei weitem am schwersten wiegt, du wirst es nie leid dir mein Geseire anzuhören.“
Sie schnaubte.

„Obendrein…“ Er unterbrach sich, nestelte an seiner Gürteltasche herum und zog alsbald eine kleine, weiße Blüte hervor. „Das ist ein Siebenstern. Nur ein Stück weit weg wachsen viele davon.“

„Wunderschön.“

„Führ mich nicht in Versuchung – ich könnte stehenden Fußes etwas erschreckend Abgeschmacktes antworten“, murmelte er und sah sie mit gespielt leidender Miene an, ehe er ihr die Blüte ins Haar steckte. „Das ist wahre, unaufgeregte Schönheit. Weißt du, unter Lächeln, Lärm und Flitter, kleine Ava, lässt sich mancherlei Unsicherheit verbergen.“ Die Armreife an seinem Handgelenk klimperten, als er sie sachte drehte. „Keiner dort draußen ist ohne Makel und die, die dich das glauben machen wollen, verhehlen am meisten vor dir.“ Kurz kniff er die Lippen zusammen und atmete geräuschvoll aus. „Dabei würdest du selbst ihre reizlosesten Seiten mit neugierigem Blick betrachten. Du würdest sogar diese schätzen – genau wie die meinen.“ Bildete sie es sich ein, oder fand sich die Traurigkeit, die sonst nur in seinen Liedern hauste, einen Wimpernschlag lang auch in seinem Schmunzeln. „Das gibt den Leuten den Mut, sich ihren Schwächen zu stellen; das ist ein großes Geschenk. Aus diesem einen Grund und so vielen anderen: Vertrau mir, die Welt würde dir zu Füßen liegen.“

Ava wollte etwas entgegnen, doch sie war sprachlos. Sollte sie es wagen, ihm zu glauben? War da wirklich eine Welt, die sie will­kommen heißen würde? Nichts hatte sie sich je inniger gewünscht, aber … Verhasst. Gejagt! Sie zuckte mit den Schultern.

„Lässt er dich noch immer nicht hinaus, dein Vater – nicht einmal ins Dorf?“

Ein Kopfschütteln. Seit Pyotrs Erzählungen sie mehr und mehr nach der Gesellschaft anderer verlangen ließen, hatte sie Vadr regel­mäßig in den Ohren gelegen: Sie wollte ihn doch bloß zur Mühle begleiten, wenn er Dörrfleisch und Bälge gegen Mehl eintauschte. Zur Antwort auf ihr Drängen hatte der Durchgang zum Hinterzimmer, anstelle des Vorhangs, eine Tür samt Riegel bekommen. Vadr sperrte sie nun vorsorglich dort hinein, wann immer er die Hütte für seine Besorgungen verließ. Alles aus Liebe. Das sagte er, und sie wollte es glauben, aber alles Verständnis, das sie bisher für ihn aufgebracht hatte, wich zu­sehends einer tiefen Traurigkeit und Wut.
Stockend holte sie Luft. Nichts hiervon konnte sie mit Pyotr teilen. Auch ohne dieses Wissen war er um ihretwillen schon aufgebracht genug. Mehrmals hatte Ava ihre liebe Not gehabt ihn davon abzu­bringen ihren Vater zur Rede zu stellen. Das durfte auf keinen Fall passieren: Sie wusste nicht, was Vadr dann tun würde; und Pyotr? Der kannte nicht einmal die ganze Wahrheit … Wann immer sie daran dachte, schien sich etwas in ihrer Brust auszudehnen, wohl mit dem Ziel sie zu ersticken. Anders. Gefährlich. Beherrsche dich zu jeder Zeit. „Vadr wird mich niemals mitnehmen.“

„Warum nicht?“

Verhasst. Ausgenutzt! „Weil ich-“, hob Ava an, doch sie brachte die Worte nicht heraus. Die Wärme hinter dem Herzen, die sie beim Blick in die besorgten Augen ihres Freundes empfunden hatte, wurde vollends zu einem bekannten, unangenehmen Flirren. Niemand darf es je erfahren! Niemand! Sie wollte es ihm unbedingt sagen, doch wie? Ihr fehlten buchstäblich die Worte. „Er hat zu viel Angst um mich.“

„Dann lass ihn stur sein, dann musst du allein gehen!“, brauste Pyotr auf und Ava fuhr zusammen. „Willst Du das bis in alle Ewigkeit ertragen? Früher oder später wird seine Angst all dein Feuer löschen.“

Ein Poltern; panisch winkte Ava Pyotr fort. Zu spät!

Vadrs schwere Schritte; er hastete durch die Stube, brach hinaus aus der Hütte. „Was macht Ihr da! Weg! Weg von dem Fenster, Du Hundsfott!“

Ava taumelte zurück in die Finsternis ihres Verstecks, schluckte ihren Schrei und alle Tränen. Jeder Laut von ihr würde Vadrs Wut nur mehr Zunder geben. Freunde, dachte sie und unterdrückte ein Wimmern, ihres Schweigens wegen würde Pyotr sie wohl kaum mehr dafür halten.
In ihrer Hilflosigkeit zupfte sie die Blüte aus ihrem Haar, stürzte zum Lager, schob sie unter eines der Felle. Sie zitterte. Sie bebte. Sie schluchzte, während ihr Vater draußen tobte und ihren einzigen Vertrauten in die Nacht hinausjagte.

Nun war Pyotr zurück und wieder rang Ava in wortloser Verzweiflung ihre Hände. Warum war er wiedergekommen? Ungeachtet der brennenden Wut ihres Vaters und nach allem, was vorgefallen war …

Der Tändler ließ Vadr nicht aus den Augen, redete ruhig auf ihn ein. Armreife klirrten. Er wich langsam vor ihm zurück und je näher die beiden Männer Avas Versteck kamen, desto besser verstand sie deren Worte. „Sie ist Eure Tochter. Herr, Ihr könnt sie nicht auf alle Zeit einsperren.“

„Keiner fragt nach deinem Dafürhalten, Trödler. Du verstehst rein gar nichts!“, brüllte Vadr. „Nimm die Beine in die Hand, ehe ich mich vergesse und komm mir nie wieder unter die Augen!“

„Nein, ich verstehe wirklich nicht. Hat Eure Tochter nicht das Recht auf Freiheit, auf ein eigenes Leben“, entgegnete Pyotr in gefasstem Ton. „Was soll das für eine Liebe sein, die mit Schlössern und Gittern daherkommt?“

„Halt mich für grausam, aber es geht mir um ihre Sicher­heit. Sie ist eine Gefahr! Für sich selbst und für andere.“

„Das ist Unsinn!“ Nun schrie auch Pyotr. Ein dumpfer Schlag gegen den verrammelten Laden, seine aufgebrachte Stimme, ganz nah. „Ava! Hörst du? Das ist Unsinn. Du bist ein wundervolles Mädchen und lieb und –“ Einen Wimpernschlag lang kreuzten sich ihre Blicke durch den Spalt, vor dem Ava hockte, dann –

Metall blitzte auf. Vadrs alte Streitaxt aus Rāchaerz! Er schwang deren Hammerkopf nieder.

Ein schauderhaftes Knacken.

Es folgte ein Kreischen, das fremd tönte und doch nur aus Avas eigener Kehle stammen konnte.

Pyotr verdrehte die Augen, schnaufte, kippte zur Seite.

Sie verlor ihn aus dem Blick, hörte ihn nur noch würgen. „Nein, Vadr! Halt!“

Schon drehte ihr Vater die alchemische Axt, die selbst einen Unsterblichen ernstlich versehren konnte, hob sie erneut über den Kopf. Er würde ihren Pyotr töten!

„Halt!“ Kalter Schweiß brach Ava aus. Das Flirren. Es stieg in ihr hoch, wand sich um jede Rippe, drängte gegen ihr Herz. Sie wollen dich einsperren! Aber war sie nicht längst eine Gefangene. Du bist eine Gefahr! Sie war es nicht, die eine Waffe erhob. Zu deinem Schutz! Die Macht, die sie durchfloss, wurde zu stark, Furcht und Wut nährten sie und in einem einzigen Augenblick brach sie sich Bahn.

Ein durchdringender Knall.

Die Wand, an der Ava eben noch gelehnt hatte, barst mit lautem Knacken, Splitter schlugen in alle Richtungen. Dann kam das Rot. Ava spürte sogar, wie sich ihre Pupillen weiteten, um das grelle Licht aufzunehmen. Zu viel! Die plötzliche Blindheit begleitete Hitze – eine Glut, die sie von außen wie von innen zu versengen drohte.

Ein Schrei, das dumpfe Aufprallen der Axt auf den Boden, das Zischen ihrer Magie und …

Ava strauchelte, blinzelte, riss die Arme vors Gesicht. Ringsum schlugen Flammen empor, die Hütte brannte lichterloh. Bei den Prinzipien, nein! Sie keuchte, hustete, stolperte blind voran und über Balken und Schutt ins Freie.

Auf der Wiese, inmitten versprengter Trümmer kauerte Pyotr. Verletzt. Die oberflächlichen Kratzer heilten bereits, doch aus einer garstigen Wunde an seinem Schenkel suppte das Blut, rann feucht und glänzend über rußgeschwärzte Fingerspitzen und versengtes Leinen. Nein! Avas Blick, trübe von Rauch und Asche, glitt fort, blieb an einem Leib haften, den die nahen Flammen gerade erst freigaben. Sie taumelte darauf zu. Einen losgelösten Moment lang weigerte sie sich, zu akzeptieren, was ihre Augen sahen, dann traf es sie umso härter: Vadr! Da lag ihr Vater, den sie so lieb hatte, der ihr alles bedeutete. Totenstill. Beim Anblick seines verkohlten Gesichtes sackten ihr beinahe die Beine weg. Sie hatte ihm das angetan. Wie sollte sein unsterbliches Fleisch solche eine Versehrung heilen können? Unvorstellbar, unmöglich …

Eine erbarmungslose Stille senkte sich über sie, fror alles in diesem grauenvollen Moment der Schuld ein, bis letztlich Pyotrs heiseres Stammeln zu ihr durchdrang: „E-Eine Wild­magische…“

Nur mit Mühe löste sich Ava vom Anblick des Mannes, der ihre ganze Welt, der ihr Leben gewesen war. Gefährlich! Sie war gefährlich. und was sie getan hatte, war unsühnbar. Was nun? Sie suchte den Blick der einzigen anderen Person, der sie zutraute, die Antwort auf diese Frage zu kennen. „Pyotr“, brachte sie unter Schluchzen hervor.

Das Weiß weit geöffneter Augen stach ihr aus seinem rußigen Gesicht entgegen. Wildmagische, hatte er sie genannt. Wildmagische? Jetzt starrte er sie wortlos an, zitterte am ganzen Körper.
Alles verloren! Zweifellos. Sie hatte Vaters Vertrauen betrogen, ihn und Pyotr verletzt, ihr Zuhause in Schutt und Asche gelegt …

Du bist anders. Man verachtet solche wie dich! Dieses Mal ließen sich die Tränen nicht fortzwingen.

Sie jagen dich! … und Ava rannte.